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Rios Problem mit der Stimmung
Einseitige Pfiffe und Buhrufe, nur spärlich gefüllte Stadien - die Olympia-Organisatoren kämpfen mit Fan- und Stimmungsproblemen. Social-Media-Appelle und eine Ticket-Task-Force sollen die letzten Olympiatage retten.
Mario Andrada hat einen Job, um den ihn in unruhigen Olympiatagen kaum ein Mensch beneidet. Der 66-jährige Brasilianer erinnert mit seinen kurzgeschorenen grauen Haaren, der Hornbrille aus einem früheren Jahrhundert und der meist knallbunten Olympiajacke an einen Comedian, der gleich launig den täglichen Olympiawahnsinn verulken könnte. Doch Andrada bleibt ruhig und gelassen, stoisch fast schon, wenn er mit seiner täglichen 11-Uhr-Show beginnt. Mario Andrada ist der Sprecher des Organisationskomitees (OK).
Schon fast stoisch: OK-Sprecher Mario Andrada.
Die Fragen sind nicht immer so, dass sie den Komiker aus Andrada herauskitzeln könnten. Die verdreckte Seglerbucht? Das grüne Becken bei den Wasserspringern? Diebstähle im Olympischen Dorf? Überfälle von falschen Polizisten? Gewehrkugeln auf der Reitanlage? Zu wenige Olympiahelfer? Was nicht passt, wird passend gemacht: Andrada redet - was soll ein Kommunikationschef auch sonst tun - die meisten Olympiaprobleme einfach weg. Doch wie in einem komplexen System, das ganz im Sinne der Chaostheorie reagiert und in dem kleinste Nuancen scheinbar verheerende Auswirkungen haben, taucht ein Thema immer wieder auf. Das Andrada nicht ganz so einfach wegreden kann. Und das das Organisationskomitee und das Internationale Olympische Komitee zum Handeln zwingt.
Appell per Videoleinwand
Die Fans und die Stimmung in den Arenen haben eine Eigendynamik entwickelt, der man nur schwer gegensteuern kann. Schon seit den ersten Wettkampftagen hatte sich angedeutet, dass das brasilianische Publikum in zahlreichen Wettkämpfen die Sache mit dem olympischen Geist noch nicht ganz so recht verstanden hat - und sich jenseits aller Fairness meist lautstark auf eine Seite und bedachten den Kontrahenten mit Buh-Rufen und Pfiffen. "Die Sportler haben hart gearbeitet, um hier zu sein. Bitte feuert sie an und buht sie nicht aus", heißt es deshalb beispielsweise auf den Videoleinwänden im Tischtennis-Pavillon seit dem vergangenen Samstag (13.08.16).
Dass dezente Hinweise mitunter keine oder sogar eine noch verheerendere Wirkung haben können, zeigte sich zuletzt beim Stabhochsprung der Männer. Der Franzose Renaud Lavillenie, Olympiasieger 2012, wurde nicht nur während des Wettkampfs, sondern sogar während der Siegerehrung mit gellenden Pfiffen bedacht. Erst reagierte er sachlich ("Für die Olympischen Spiele ist das kein gutes Image. Ich habe den Brasilianern nichts getan."), dann mit bitterer Ironie ("1936 war die Menge gegen Jesse Owens. Seitdem habe ich so etwas nicht mehr gesehen. Wir müssen uns damit beschäftigen"), für die er freilich rasch eine Entschuldigung nachschob.
Die Social-Media-Offensive des Organisationskomitees
Lavillenie war noch während der Siegerehrung in Tränen ausgebrochen und musste nach dem Wettkampf vom siegreichen Brasilianer Thiago Braz da Silva und Stabhochsprung-Legende Sergej Bubka getröstet werden. Die Zusammenkunft des Trios wurde massenwirksam via Twitter gestreut- der neueste Ansatz von Krisenmanager Andrada, die buhenden Fanmassen in den Griff zu bekommen.
"Pfiffe und Buhrufe sind kein korrektes Verhalten, selbst nicht in Eins-gegen-eins-Wettkämpfen und mit einem Brasilianer, der Chancen auf den Olympiasieg hat", doziert Andrada.
Das Organisationskomitee plane deshalb, den Dialog mit den brasilianischen Zuschauern in den sozialen Netzwerken zu intensivieren, "ohne die Leidenschaft für den Sport zu verlieren." Ähnlich virtuos-kryptisch formulierte es Mark Adams, Sprecher des Internationalen Olympischen Komitees (IOC). Er lobte ausdrücklich die Begeisterung der Brasilianer bei den Wettkämpfen, bat aber darum, die Anfeuerung - speziell für heimische Athleten - "auf einem guten Weg zu kanalisieren." Zur dramatischen Verstärkung fand auch ein Statement von IOC-Präsident Thomas Bach zu den Lavillenie-Pfiffen den Weg per Twitter in die Welt. Das Verhalten der Zuschauer beim Stabhochsprung sei "schockierend und bei Olympia nicht akzeptabel", ließ sich Bach zitieren.
Stimmung und Fans ausdrücklich erwünscht
Die Offensive von OK- und IOC-Verantwortlichen kommt nicht von ungefähr. Schließlich brauchen beide die Fans, um überhaupt so etwas wie Olymmpiastimmung in die Stadien zu bringen. In einzelnen Sportarten wie dem Beachvolleyball klappt's bestens und man hat tatsächlich das Gefühl, bei Olympischen Sommerspielen zu sein. Ansonsten waren leere Ränge und Ticketprobleme ein weiteres beherrschendes Thema, dem sich Andrada und Adams fast täglich stellen müssen.
Beispiel Leichtathletik. Vor vier Jahren war das Olympiastadion in London das ausverkaufte Stimmungsnest schlechthin. In Rio lag die Auslastung an den ersten Tagen bei 60 Prozent, beim ersten Auftritt von Sprint-Superstar Usain Bolt bei immerhin 80 Prozent. "Nein, ich bin mir nicht sicher, dass wir hier immer ein volles Haus haben werden", sagte London-OK-Chef Sebastian Coe in Rio. "Das ist der negative Eindruck, dass viele Stadien nicht voll sind. Da scheint es schlichtweg organisatorische Probleme zu geben", analysierte Deutschlands Olympiachef Alfons Hörmann im ARD-Interview.
Die Hoffnung auf volle Stadien
IOC-Sprecher Adams: "Wollen volle Stadien sehen"
"Wir wollen natürlich volle Stadien sehen", sagte IOC-Sprecher Adams, "wir sind nicht enttäuscht vom bisherigen Ticketverkauf", erklärte Andrada in der Olympia-Halbzeitbilanz. Gleichwohl will das OK dem Eindruck leerer Ränge entgegenwirken. Man wolle das Gespräch mit Sponsoren suchen, die große Ticketpakete eingekauft haben. Schulklassen sollen verstärkt eingeladen werden. "Wir haben eine Task-Force gegründet, die sich darum kümmert", sagt Stoiker Andrada.
"Wir haben uns entschieden, mit Rio de Janeiro eine Mondmission zu starten. Wie sagte schon Kennedy: Das ist eine Herausforderung, die es zu meistern gilt", hatte Andrada, gelernter Journalist und vor den Spielen fünf Jahre Kommunikationschef für Lateinamerika bei einem großen Sportartikelhersteller, in einem Gastbeitrag in der brasilianischen Zeitung "Folha de S. Paulo" geschrieben. Gescheitert ist diese Mondmission nicht. Aber Andrada wird glücklich sein, wenn die Mondfähre am Ende zumindest wieder heil landet.
Stand: 17.08.16 13:41 Uhr